Wenn Sie vom Reizdarmsyndrom (RDS) betroffen sind, leiden Sie u.a. an Durchfall und/oder Verstopfung. Beides ergibt sich aus Problemen mit der Darm-Motilität. Damit sind die wellenartigen Kontraktionen der Muskeln im Magen-Darm-Trakt gemeint, die Nahrung und Reststoffe vorwärts bewegen. Es gibt zwei Arten von Motilität. Von der ersten haben Sie bestimmt schon mal gehört: die Peristaltik; sie bewegt die verzehrte Nahrung.
Die zweite Art von Motilität hat leider nicht den Bekanntheitsgrad, den sie verdient. Sie ist sehr wichtig für die Aufrechterhaltung einer gesunden Darmflora und
heißt Migrierender Motorischer Komplex bzw. englisch Migrating Motor Complex (MMC).
Studien haben gezeigt, dass Menschen mit RDS einen gestörten MMC haben. Die Ursachen sind noch nicht endgültig geklärt, aber es gibt Hinweise darauf, dass z.B. eine bakterielle Infektion das Gleichgewicht im Dünndarm gestört hat (Schädigung der interstitiellen Cajal-Zellen) und dieser dann nicht in der Lage war, den MMC korrekt auszulösen.
Wenn Ihr MMC nicht richtig arbeitet, wird Ihr Dünndarm mit einer erhöhten Anzahl Bakterien konfrontiert. Dieser Anstieg unerwünschter Bakterien kann die tatsächliche Ursache Ihres RDS sein und nennt sich Dünndarmfehlbesiedlung bzw. SIBO (Small Intestinal Bacterial Overgrowth).
Obwohl er Forschern schon lange bekannt ist, gibt es eine Menge, was wir nicht über den MMC wissen. Und viele wissen leider nicht, wie wichtig er für die Gesundheit und Vorbeugung bzw. Behandlung von Magen-Darm-Krankheiten wie RDS ist.
Sobald man isst, schmeckt oder über Essen nachdenkt, setzt die Peristaltik ein und beginnt den Verdauungsprozess.
Im Gegensatz dazu beginnt der MMC nur dann, wenn Sie eine längere Zeit nichts gegessen haben. Man nimmt an, dass der MMC eine Frühjahrsputz-Funktion hat, die unseren Darm frei von unerwünschten Substanzen hält.
Noch bevor Sie Ihr Essen kauen und hinunterschlucken, füllt sich Ihr Magen mit konzentrierter Salzäure, die so stark ist wie die einer Autobatterie. Wenn die gekauten Nahrungsbrocken im Magen sind, zerkleinert er sie mit mahlenden Bewegungen in winzige Stücke. Inzwischen bereiten Ihre Gallenblase und Bauchspeicheldrüse den Dünndarm auf seine Arbeit vor, indem sie Galle zur Fettverdauung abgeben sowie Verdauungsenzyme.
Galle und Enzyme zerlegen dann im Dünndarm die aus dem Magen kommenden Nahrungsbrocken in Nährstoffe, die resorbiert und im Körper verteilt werden.
Peristaltik
Während der weiteren Verdauung ziehen sich die Darmwand-Muskeln rhythmisch zusammen und bewegen den Nahrungsbrei vorwärts. Gleichzeitig ziehen sich Teile der Darmwände zusammen und drücken den Nahrungsbrei, der gerade verdaut wird, an die Dünndarmschleimhaut, wo die Resorption der Nährstoffe stattfindet.
Im Dickdarm bewegen starke Kontraktionswellen den Speisebrei hin und her und befördern ihn weiter. Eine zusätzliche starke Kontraktionswelle befördert den Darminhalt schließlich zum Enddarm, wobei in der Regel ein Entleerungsreiz ausgelöst wird.
Migrierender Motorischer Komplex (MMC)
Zwischen den Mahlzeiten sorgt eine andere Druckwelle – der MMC – für den Frühjahrsputz des Magen-Darm-Trakts. Diese kräftige Welle fegt alles aus dem Magen-Dünndarm-Bereich hinaus, was er nicht auflösen oder in hinreichend kleine Stücke zerlegen konnte, z.B. schlecht gekaute Nüsse oder nicht vollständig aufgelöste Medikamente.
Wenn keine Nahrungsaufnahme dazwischenkommt, bewegt sich diese Welle alle 90-120 Minuten langsam von der Speiseröhre zum Dickdarm und übt so viel Druck aus, dass sie Paranüsse zerdrücken könnte und unerwünschte Mikroben aus dem Dünndarm in den Dickdarm befördert werden.
Anders als die Peristaltik setzt diese Reinigungswelle nur dann ein, wenn Sie bereits eine Weile nicht gegessen haben und sich im Magen-Darm-Trakt keine Nahrung mehr befindet, z.B. wenn Sie schlafen oder 4-5 Stunden nichts gegessen haben. Und sie kommt sofort zum Stillstand, wenn Sie den ersten Bissen z.B. Ihres Frühstücks zu sich nehmen!
Der MMC sorgt übrigens auch für das Magenknurren bei leerem Magen.
Es gibt also mindestens zwei Wege, wie der MMC uns hilft:
Wenn Sie positiv auf SIBO testen (wie bis zu 80% der RDS-Patienten1) und diese Ursache gezielt angehen wollen, dann müssen Sie Ihren MMC stimulieren bzw. ihm tatsächlich Gelegenheit geben, seine Arbeit zu erledigen, damit er wieder Speisereste und unerwünschte Bakterien aus dem Dünndarm spülen kann. Unterstützen Sie Ihren MMC, indem Sie längere Esspausen einhalten und die nächtliche Nüchternphase mindestens 12 Stunden beträgt.
(Sollten Sie zum RDS-Durchfalltyp gehören, mag Ihnen die Vorstellung schrecklich erscheinen, Ihren Darm zu noch mehr Aktivität anzuregen – schließlich wollen Sie dort ja eher weniger davon… Aber der MMC findet nicht im Dickdarm statt und wird daher den Durchfall nicht verschlimmern.)
Der MMC hat verschiedene Aktivitätsphasen, die je nach Person sehr unterschiedlich sein können. Allerdings scheint es meistens so zu sein, dass der erste MMC-Zyklus erst 1½ – 2 Stunden nach dem Essen beginnt. Wenn Sie nun zu denjenigen gehören, die gern mal einen Happen zwischendurch essen, kann dies verhindern, dass Ihr MMC überhaupt einsetzt!
Menschen mit motilitätsgeprägten Magen-Darm-Problemen wird daher empfohlen, sich das „Snacking“ abzugewöhnen und auf 3-4 gut sättigende Mahlzeiten pro Tag umzustellen.
Die Rechnung ist einfach: Es dauert ca. 1½-2 Stunden, bevor der MMC beginnt. Dann benötigt er knappe 2 Stunden, um alle Phasen zu durchlaufen. Wenn Sie während dieser Zeit essen, hört der MMC sofort auf zu arbeiten. Damit er seine Arbeit also wirklich erledigen kann, müssen Sie zwischen den Mahlzeiten mindestens 3½ Stunden mit Essen pausieren. Das bedeutet: keine Snacks, Säfte oder andere kalorienhaltige Speisen und Getränke – nur Wasser oder Kaffe/Tee pur ohne Süßungsmittel oder andere Zutaten!
Dr. Pimentel, der ein führender Experte auf dem Gebiet RDS/SIBO ist, empfiehlt in seinem Buch A New IBS Solution, dass Sie 3-5 Stunden zwischen den Mahlzeiten warten sollten; später korrigierte er diesen Zeitraum auf 4-5 Stunden.
Mein erster Gedanke war: das schaffe ich nie! Ich war bekannt dafür, es nicht mehr als eine gute Stunde auszuhalten, bis ich wieder essen musste… Nie habe ich ohne Essen das Haus verlassen, weil ich befürchtete, zu schnell hungrig zu werden. Aber nachdem mir die Bedeutung des MMC bewusst wurde, wollte ich mir diese schlechte Angewohnheit unbedingt abtrainieren.
Nach einem Monat war die Umstellung geschafft, und ich halte es relativ leicht 3-4 Stunden ohne Essen aus (manchmal auch schon knappe 5). Wenn ich aber doch früher das Gefühl bekomme, dass
mein Magen demnächst knurrt, esse ich auch vor Ablauf der Mindeststunden – dann aber möglichst keinen Überbrückungs-Snack, sondern gleich eine richtig sättigende Mahlzeit.
Dabei geholfen hat:
- mich bei jeder Mahlzeit wirklich satt zu essen und ausreichend Fett und Protein einzubauen, damit ich länger satt bleibe
- mich zwischen den Mahlzeiten so intensiv zu beschäftigen, dass ich nicht an Essen denke
Während des MMC nimmt die Produktion von Magen-, Gallen- und Bauchspeicheldrüsensekreten zu. Diese Sekrete tragen vermutlich ebenfalls dazu bei, übermäßiges Bakterienwachstum im Dünndarm zu verhindern.
Sehr interessant ist übrigens, dass es eine Verbindung zu geben scheint zwischen MMC-Zyklen und Schlafzyklen: Sie geschehen in ähnlicher Frequenz, haben zyklische Muster und werden durch sensorische Reize gestört (beim MMC ist es Nahrung, beim Schlaf ist es z.B. Licht). Es gibt Theorien, dass zwischen diesen beiden Zyklen Zusammenhänge bestehen, was einen fragen lässt, ob Schlafmangel oder unregelmäßige Schlafgewohnheiten in Beziehung zum RDS stehen könnten.
Sie können Ihren MMC (und damit Ihr RDS) positiv beeinflussen, indem Sie Prokinetika einsetzen. Ein Prokinetikum ist ein Medikament, das zur Anregung der Magen-Darm-Peristaltik eingenommen wird.
Besprechen Sie diese Möglichkeit aber unbedingt mit Ihrem Arzt und bedenken Sie, dass die Mittel nicht bei jedem gleich wirksam sind. Auf diesem Gebiet gibt es noch nicht allzu viel Forschung; einige Studien finden Sie bzw. Ihr Arzt hier auf meiner Website.
Das fragen sich viele Patienten mit RDS-C (C = constipation/Verstopfung).
Der Nachteil bei Abführmitteln ist, dass sie keinen MMC auslösen!
Einige Arten von Abführmitteln fungieren als Stimulanzien, die die Peristaltik anregen, so dass das Essen im ganzen Magen-Darm-Trakt schneller bewegt wird. Aber dies hilft nicht dabei, den Darm von übriggebliebenen, unverdauten Partikeln oder überschüssigen Bakterien zu reinigen.
Andere Arten von Abführmitteln sind keine Stimulanzien, sondern “Stuhlweichmacher“. Sie ziehen Wasser aus dem Darm und mischen es dem Stuhl unter, sodass Ihre Verstopfung zu Durchfall wird. Abgesehen vom Risiko der Dehydratation, besitzen diese Abführmittel den Nachteil, aus Ballaststoffen zu bestehen, die fermentierbar sein können – ein großes Tabu bei RDS und SIBO!
Abführmittel lösen auch keinen Reiz aus zur Ausschüttung von Magen-, Gallen- oder Bauchspeicheldrüsensekreten, wie es der MMC tut, um den Darm von Bakterien zu reinigen. Sie helfen nicht, das zugrundeliegende Motilitätsproblem zu lösen.
Wenn Verstopfung ein sehr großes Problem für Sie ist, konsultieren Sie bitte Ihren Arzt!
Diese Website dient nicht
der Eigendiagose und/oder als Anleitung zur Eigentherapie! Bevor Sie eine SIBO-Diät, FODMAP-reduzierte Ernährung oder andere Therapie in Betracht ziehen, müssen Sie
mögliche organische Erkrankungen durch einen Facharzt abklären lassen!
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1 Irritable bowel syndrome and small intestinal bacterial overgrowth: Meaningful association or unnecessary hype